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Timo Rieg: Das Tatsache-Meinung-Problem des Corona-Journalismus

Corona-Journalismus

Die Corona-Berichterstattung in den deutschen Leitmedien zeigte schwere Qualitätsmängel. Dabei waren es oftmals scheinbare Petitessen und Banalitäten, die in Summe eine geradezu demokratiegefährdende Wirkung entfalteten. Timo Rieg über Meinungen und Tatsachen im Journalismus.

von Timo Rieg

Tatsachen sind immer richtig – denn andernfalls wären sie keine Tatsachen, sondern unwahre Tatsachenbehauptungen.

Meinungen können nie richtig sein – und entsprechend auch nie falsch. Sie können ob ihrer schwachen, fehlenden oder unlogischen Begründung absurd erscheinen, sie können sehr abseitig sein (im Sinne von einzigartig), sie mögen mit allen möglichen Werten und Normen kollidieren oder aber im Gegenteil von fast jedem Menschen geteilt werden – richtig oder falsch sind sie nie.

Richtig oder falsch bzw. wahr oder unwahr können Tatsachenbehauptungen sein. Im Journalismus ist es daher erforderlich, diese drei grundverschiedenen Aussagetypen strikt zu trennen – und vor allem Meinungen deutlich als solche auszuweisen und Personen zuzuordnen, denn nur diese können Meinungen haben. Vermutlich klingt das banal – empirisch betrachtet liegt hier aber eines der größten Probleme des Corona-Journalismus (und wohl des Journalismus insgesamt).

Tatsachen, Meinungen und Tatsachenbehauptungen

Dazu ein Lehrbuchbeispiel: Die Überschrift „Schmidt will nicht Bundeskanzler werden” zu einer Aussage des damaligen Hamburger Bürgermeisters Helmut Schmidt wurde nicht erst falsch, als dieser doch als Kanzlerkandidat zur Wahl antrat, sie war zu jedem Zeitpunkt reine Spekulation, die falsche Darstellung einer Meinungsbekundung als Tatsache. Fakt war allein, dass Schmidt gesagt hatte, nicht Kanzler werden zu wollen. Was er aber wirklich wollte, konnte außer ihm niemand wissen. Dieser Unterschied ist keine Petitesse, sondern essentiell, um über Richtigkeit im Journalismus diskutieren zu können.

Tatsachen sind intersubjektiv nachprüfbar. Verschiedene Betrachter kommen – Mittel und Vermögen vorausgesetzt – zur gleichen Feststellung. Das sind wir gewohnt von Gerichten, wir erwarten es bei der Bewertung von Prüfungsleistungen ebenso wie beim Wetterbericht. Tatsachen (=Fakten) sind da, und sie sind immer richtig, sonst wären sie eben keine Fakten, sondern Fiktionen.

Helmut Schmidt, um zum Lehrbuchbeispiel zurückzukommen, hatte damals eine Meinung. Diese wäre eine Tatsache gewesen, hätten wir sie valide prüfen können; da sie außer ihm selbst aber naturgemäß niemand als solche sehen konnte, blieb für die Kommunikation nur seine Behauptung dieser Meinung. Diese Behauptung war eine Tatsache – aber eben nur als Behauptung. Wenn Schmidt in einem Interview sagt: „Ich will nicht Bundeskanzler werden“, dann ist es eine Tatsache, dass er dies gesagt hat. Es ist aber keine Tatsache, dass er nicht Bundeskanzler werden will. Da wir Meinungen anderer nur durch ihre (auch nonverbale) Äußerung zur Kenntnis nehmen können, dürfen wir den korrekten Begriff „Meinungsbehauptung“ schlicht auf „Meinung“ verkürzen.

Jedes Gesetz, jede Verordnung und alles, was wir so an Regeln haben, sind Meinungen. Es sind gerade keine „Naturgesetze“, sie können keinem Wahrheitsbeweis unterzogen werden. Homosexualität kann bestraft oder steuerlich begünstigt werden. Cannabis kann verboten oder erlaubt sein, der Handel damit kann bußgeld- oder mehrwertsteuerpflichtig sein. Tatsache ist jeweils nur die aktuelle Kodifizierung einer Meinung. Tatsache ist, dass man für Vergehen oder Verbrechen nach den entsprechenden Gesetzen bestraft werden soll (sog. Rechtstatsachen, vgl. Branahl 2019: 106). Keine Tatsache ist hingegen, dass dies so sein muss. Eine mehrheitliche Meinungsänderung im Parlament genügt, und die Welt sieht ganz anders aus.

Regelmäßig befasst mit der Unterscheidung von Meinungen (Werturteilen) und Tatsachenbehauptungen sind Gerichte. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bezeichnet etwa die Meinungsäußerungsfreiheit als für die freiheitliche Demokratie schlechthin konstituierend, wohingegen unwahre Tatsachenbehauptungen keinen Schutz bei der „Abwägung mit anderen Grundrechten oder einfachgesetzlich geschützten subjektiven Rechten“ genießen (Di Fabio 2010: 373).

Halten wir fest: Eine Tatsache ist nicht diskutierbar und nicht falsifiziert, aber technisch falsifizierbar. Eine Meinung ist nicht falsifizierbar und die Aussage kann stets auch anders formuliert werden, ohne unrichtig zu sein, denn sie ist ein Werturteil über Tatsachen. Tatsachenbehauptungen, die nicht falsifizierbar sind, gehören zum Glauben.

Tatsachen und Meinungen zu Corona

Corona ist eine Tatsache, die gesamte Pandemiepolitik schafft aus herrschenden Meinungen weitere Fakten. Das gälte es fortwährend zu trennen, doch genau hier kam der Corona-Journalismus komplett aufs falsche Gleis. Denn er machte eine Meinung zur Tatsache, von der alles Weitere abhing und bis heute abhängt: ‚Das‘ Corona-Virus ist nicht mit Grippe-Viren zu vergleichen, es ist ein besonderes Todesvirus, das ganz besondere Maßnahmen erforderlich macht. Es schafft eine historische Ausnahmesituation, ein Jahrhundertereignis. Es war völlig legitim, Corona so einzuschätzen, und natürlich darf das auch heute noch jeder so tun. Es war aber vom ersten Tag an eine Meinung, kein Faktum. Es war kein wissenschaftlicher Befund, sondern die Meinung einzelner Wissenschaftler. Fakten sind Infektionszahlen, Krankenstände, Todesraten, R-Werte etc., alles, was eben faktisch da ist.

Es ist wichtig sich zu vergegenwärtigen, dass die gesamte Corona-Politik und – wie auch immer miteinander in Wechselwirkung stehend – ein großer Teil der journalistischen Corona-Kommentierung auf einer im Februar, spätestens März 2020 gefassten Meinung basiert. Fast alles, was auch zwei Jahre später berichtet wird, hängt von dieser einen Meinung ab.

Demonstrationsverbote (mit gewaltsamen Auflösungen, mit Schlagstöcken, Pfefferspray, Reiterstaffeln, Wasserwerfern) und die ganze mediale Erregung basieren auf der Meinung, zum Infektionsschutz Unbeteiligter müssten solche Aufzüge und Kundgebungen unbedingt und mit allen Mitteln verhindert werden. Besuchsverbote, nicht nur im Privaten, auch in Krankenhäusern, Pflegeheimen, Wohngruppen für Behinderte, teilweise wochenlange Isolation: sie basieren auf einer Meinung. Reiseverbote, geschlossene Universitäten, neue Sperrstunden: die Grundlage für all das waren Werturteile.

Dass Verstorbene ohne Angehörige beerdigt wurden: eine Tatsache. Dass es so sein musste: eine Meinung. Dass es nicht anders ging: eine falsche Tatsachenbehauptung. Dass auch nach 24 Monaten Corona Menschen einsam im Krankenhaus starben, weil sie keinen Besuch bekommen durften: eine Tatsache; die Grundlage für die entsprechenden Verfügungen: Meinungen (oft von örtlichen Krankenhaus- und Pflegedienstleitungen, also ohne verpflichtende Anordnung, die wiederum eine Tatsache wäre, aber auf einer gesetzgeberischen bzw. verordnungsgeberischen Meinung basierend).

Dass es „richtig“ ist, ungeimpfte Menschen in ihren Rechten drastisch einzuschränken (sie durften unter 2G nicht einmal in einem Imbiss etwas zu Essen abholen): eine Meinung. Der Inzidenz-Wert von 50 pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen ist eine rechnerische Tatsache (soweit die Berechnung stimmt). Wenn Politik und Behörden bei entsprechenden Werten handeln, sind das natürlich so wie die Infektionen selbst Tatsachen, ihre Interpretation aber eben etwas, worüber man streiten kann (und zwar aus allerlei Gründen). Dass Gesetze Gültigkeit haben und Verstöße gegen sie harte Sanktionen nach sich ziehen können, ist eine Tatsache, der Inhalt der Gesetze bleibt aber Meinung: Man kann eben wahlweise männliche Homosexualität unter Strafe stellen oder deren Diskriminierung.

Ein Standardfehler in der Berichterstattung war die Verwechslung der Tatsache Corona mit der Meinung Corona-Politik.

Aus Meinungsquellen sprudeln keine Tatsachen

Sich des grundlegenden Unterschieds von Meinungen und Tatsachen bewusst zu sein, könnte schon bei der Quellenauswahl helfen. Warum fokussierten Journalisten gerade zu Beginn der Pandemie so auf Merkel und Spahn, warum war Lauterbach Dauergast in den Talkshows? Sie geben politische Meinungen zum Besten. Die Tatsachen, die sie dabei einstreuen und je nach Belieben für ihre Argumentationen nutzen, stammen regelmäßig nicht von ihnen, sind nicht Ergebnis ihrer eigenen Forschung. Es ist geradezu Rechercheverweigerung, sich von Politikern ein Naturereignis erklären zu lassen, zumal man bei ihnen nie weiß, ob das Geäußerte wenigstens wirklich ihre Meinung ist oder nur eine opportune Meinungsbehauptung. Im März hatte Bundeskanzlerin Merkel, die für ihre Wissenschaftlichkeit von Journalisten gefeierte „Physikerin der Macht“, noch prognostiziert, 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung werden sich mit dem Corona-Virus infizieren und schloss sich dem globalen Mantra „Flatten the Curve“ an. Dass wir dann eine ganz andere Politik zu spüren bekamen, ist unstrittig. Im Dunkeln bleiben wird, wann welche Meinungsbekundungen so sehr vom Gedachten abwichen, dass man von Lügen sprechen würde.

Nur selten lässt sich das so schön dokumentieren wie mit jenem denkwürdigen Tweet des Bundesministeriums für Gesundheit vom 14. März 2020: „Achtung Fake News“ stand da zwischen zwei dicken roten Ausrufezeichen, gefolgt von:

„Es wird behauptet und rasch verbreitet, das Bundesministerium für Gesundheit / die Bundesregierung würde bald massive weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens ankündigen. Das stimmt NICHT! Bitte helfen Sie mit, ihre Verbreitung zu stoppen.“

Viele Medien, allen voran der ARD-Faktenfinder, nahmen die politische PR als Tatsache und verbreiteten sie so. Zwei Tage später wurden die „Fake News“ Wirklichkeit, die Politik verhängte den Shutdown.

Methodischer Unsinn: Meinungen im Faktencheck

Weil Meinungen weder richtig noch falsch sein können, ist es methodischer Nonsens, ihnen mit Faktenchecks zu begegnen, wie das in der Pandemie üblich geworden ist. Auf Fakten prüfen kann man nur die Tatsachenbehauptungen, die Meinungen zugrunde liegen. Und man kann Prognosen (also Tatsachenannahmen) auf ihre Plausibilität hin prüfen, nicht aber auf ihre Richtigkeit.

Ein Beispiel: Erstaunlich früh tauchte in den Medien das Stichwort „Impfpflicht“ auf, lange bevor überhaupt ein Impfstoff auf dem Markt war. Immer wieder wurde eine anstehende Impfpflicht per Faktencheck zu wiederlegen versucht, was eine Irreführung des Publikums war. Der weitere Verlauf hat ja dann gezeigt, wie untauglich all solche „Faktenchecks“ waren, da sich Meinungen jederzeit ändern können und Politiker niemals sagen müssen, was sie wirklich denken, geschweige denn, was sie irgendwann in der Zukunft als Meinung vertreten werden.

Auch eine spätere Distanzierung mit dem 16 Monate später erfolgten Einschub:

„Dieser Beitrag gibt den Faktenstand vom 06.05.2020 wieder.“

ändert natürlich nichts an der Unrichtigkeit.

Bei diesem Text handelt es sich um eine autorisierte Bearbeitung von Auszügen des Working-Papers „Qualitätsdefizite im Corona-Journalismus – Eine kommentierte Fallsammlung“ von Timo Rieg, veröffentlicht im März 2023 auf ResearchGate. Darin prüft der Autor anhand umfassender Kriterien die Richtigkeit journalistischer Texte zur Corona-Pandemie. Im Working-Paper finden sich zahlreicher Fallbeispiele zu den Ausführungen dieses Artikels.

Timo Rieg ist ein Bochumer Journalist und Medienforscher. Er schreibt u.a. für ‚Journalistik‘ und ‚Telepolis‘ und ist Kolumnist auf ‚Deutschlandfunk Kultur‘.

Text: Timo Rieg

Redaktion: Demokratie Reloaded

 

2 Comments

  1. „Corona ist eine Tatsache“
    Was meint Herr Rieg damit?
    Tatsache ist nur, dass Herr Drosten einen PCR-Test auf bestimmte Gensequenzen entworfen hat, der von der WHO Mitte Januar 2020 zur Definition von „Corona“ erhoben wurde. Mehr nicht. Ob diese Gensequenzen mit einer bestimmten Krankheit korrelieren, hat keiner geprüft, ist also bestenfalls Glauben, Vermutung, Meinung. Man hat hier den Trick des Revolverhelden angewendet, der erst auf die Wand schießt und dann ein Zielscheibe drumherum malt. So auch bei Corona: Erst war da der PCR-Test und dann hat man alle Symptome, die bei positiven PCR-Tests beobachtet werden zur Krankheit „Covid-19“ erklärt. Man hätte das Spielchen genausogut mit einem Test auf die Inhaltsstoffe einer Salami aufziehen können, dann hätte aber vielleicht der eine oder andere Arzt, Experte oder Bürger widersprochen. Es sei denn, man hätte die Erklärung gut in Fachchinesisch verpackt.

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