Das Funke-Blatt „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ liefert ein Musterbeispiel dafür, wie man Ärzte zu Straftätern erklärt, weil sie Maskenatteste ausstellen.
Von Dominique Schmidt
Womöglich sollte es nur ein weiterer Beitrag werden zu einem Thema, bei dem längst alles klar schien. Dass manche Ärzte im Internet Atteste ohne Untersuchung anboten, hörte man ja immer wieder. Als dann die Landesregierung Düsseldorf in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage des Bochumer Abgeordneten Prof. Dr. Karsten Rudolph kundtat, zuständig für die Aufsicht über die ärztliche Tätigkeit und damit für falsche Atteste seien die Ärztekammern, da beschloss WAZ-Autor Jan Jessen wohl, sich der Sache anzunehmen. Ein kurzes Gespräch mit Rudolph, eine Presseanfrage an die Landesärztekammern Nordrhein und Westfalen-Lippe, ein schlagkräftiger Titel und fertig war Jessens Artikel für den Regionalteil Niederrhein der WAZ:
Ob es wirklich so gewesen ist, wissen wir nicht. Auch nicht, weshalb derselbe Artikel am nächsten Tag im Lokalteil der WAZ Bochum erschien – jedoch mit geänderter Überschrift:
Vielleicht lag es am Übereifer der Clickbait-erprobten Bochumer Lokalredaktion – jedenfalls war über Nacht aus einer ziemlich banalen Information eine schwere Verdächtigung geworden. Ein Arzt in der Nähe, der womöglich reihenweise Atteste im Internet verteilt hatte. Konnte das wahr sein? Doch mehr erfahren die meisten Leser nicht, die Paywall versperrt den Blick auf die erhoffte Antwort. Die bleibt WAZ-Autor Jan Jessen allerdings auch dahinter schuldig.
Die zahlenden Leser aus dem Ruhrgebiet ahnen das noch nicht, für sie liest sich der Einstieg wie eine Kriminalstory. Jessen lässt den empörten Rudolph erzählen: An einer Schule in Hagen seien Atteste eines Bochumer Arztes aufgetaucht. Der Mann sei Corona-Skeptiker – für den Bochumer SPD-Vorsitzenden Karsten Rudolph ein klarer Fall: „Offenbar hat der Arzt die Atteste aus Überzeugung und nicht aus medizinischer Notwendigkeit ausgestellt.“
Der Hobbydetektiv ermittelt weiter und entdeckt Erschreckendes: Unterstützer eines Vereins kritischer Mediziner und Wissenschaftler sei der Arzt, der auch noch selbst auf seinem Blog kritische Beiträge verfasst habe. „Er soll, wie andere Mediziner auch, auf der Seite des Vereins als ärztlicher Kontakt genannt worden sein, um an ein Attest für eine Befreiung von der Maskenpflicht zu gelangen. Der entsprechende Link wurde mittlerweile gelöscht.“ Kombiniere: Hier wurden Spuren verwischt!
Nur eine Überschrift: Von Mücken und Elefanten
Doch die geänderte Überschrift hatte die Leser auf eine falsche Fährt geführt. Denn der Arzt aus Bochum hatte keineswegs Blanko-Atteste im Internet angeboten. Auch war der Link nicht verschwunden, sondern im Internet archiviert. Dort findet sich noch heute ein Aufruf des vom Mikrobiologen Sucharit Bhakdi gegründeten Vereins „Mediziner und Wissenschaftler für Gesundheit, Freiheit und Demokratie e.V.“ (MWGFD). Darin bittet dieser seine ärztlichen KollegInnen, mangels gesicherter Nachweise eines Nutzens und bestehender Gesundheitsgefahr im Einzelfall sorgfältig zu prüfen, „ob sie nicht auch bei Ihren betroffenen Patienten in den genannten Fällen eine Befreiung von der Gesichtsschutzmaske attestieren können.“ Unterlegt ist dem Ganzen der Hinweis, ein ärztliches Attest ergehe aufgrund medizinischer Gesichtspunkte, worüber Ärzte und Psychotherapeuten eigenverantwortlich entschieden. Hierzu sei ein Termin vor Ort zu vereinbaren. Es folgt eine Liste mit Ärzten und Therapeuten, die den Aufruf unterstützen – darunter auch der Arzt aus Bochum.
Selbstverständlich ist das Unterstützen einer wissenschaftlich begründeten medizinischen Position ebenso wenig strafbar wie das Ausstellen von Attesten nach bestem medizinischem Wissen und Gewissen. Jan Jessen weiß das, schließlich hatte er bei den Ärztekammern nachgefragt und zur Antwort bekommen, es läge im Ermessen des Arztes, ob eine Befreiung von der Maskenpflicht erforderlich sei. Blanko-Atteste ohne Untersuchung hingegen verstießen gegen die ärztliche Sorgfaltspflicht und würden mit Rüge oder Bußgeld geahndet – genau das war hier aber nicht der Fall. Hätte Jessen sich die Mühe gemacht und die Anschuldigungen Rudolphs näher geprüft, er hätte die Frage der Überschrift mit einem klaren „Nein“ beantworten müssen. Stattdessen schwieg er. Seine Arbeitsverweigerung hatte für den Arzt aus Bochum schwere Konsequenzen.
Die Staatsanwaltschaft Bochum nahm den Artikel zum Anlass für ein Ermittlungsverfahren. Kurz darauf stand man in der Praxis – in der Hand ein Durchsuchungsbeschluss, dessen Begründung es in sich hatte: „Am 22.10.2020 wurde in der WAZ Zeitung ein Artikel über einen Bochumer Mediziner veröffentlicht, welcher ohne Untersuchung Atteste zur Befreiung zum Tragen von Covid Masken ausgestellt haben soll.“ Der Arzt habe, „so Herr Prof. Dr. Rudolph, in einem nunmehr gelöschten ‚Link‘ das Ausstellen von Attesten ohne Untersuchung angeboten. Dies stellt eine Straftat nach § 278 StGB dar.“
Verdachtsberichterstattung: Der Sinn journalistischer Sorgfalt
Der Fall ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, welch schwere Folgen es haben kann, einen Verdacht ungeprüft in den Raum zu stellen. Die Rechtsprechung stellt daher hohe Anforderungen an die Verdachtsberichterstattung. Dazu zählt eine erhöhte Sorgfaltspflicht: Entlastendes muss berichtet werden, Anschuldigungen auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft und eine Stellungnahme des Beschuldigten eingeholt werden.
Nichts dergleichen hat Jan Jessen gemacht – dabei wäre es ihm ein leichtes gewesen, anhand der im Text enthaltenen Informationen den Namen des Arztes zu recherchieren und nachzufragen. Man mag einwenden, Jessen habe ja keinen Verdachtsbericht, sondern einen Informationsartikel zu pauschalen Maskenattesten erstellen wollen, in welchem Rudolphs Erzählung nicht mehr war als eine kurzweilige Hinleitung zum Hauptthema. Doch mit dem Austauschen der Überschrift ändert sich das. Spätestens jetzt hätte Jessen die Anschuldigungen auf ihre Plausibilität hin prüfen müssen.
Am 12.11.2020 hatte Jessen Gelegenheit seine Nachlässigkeit zu korrigieren. Stattdessen legte er nach und veröffentlichte einen Beitrag zur Durchsuchung bei dem Hausarzt, in welchem er die ungeprüften Anschuldigungen nahezu wortgleich wiederholte. Dass es aber erst sein unzureichend recherchierter Artikel war, welcher der Staatsanwaltschaft die Begründung für die Durchsuchung lieferte, darüber ließ Jessen die Leser im Unklaren.
Stahl-Gewitter: Im Fadenkreuz der WAZ Bochum
Mit zwei Artikeln hatte Jan Jessen ernste Zweifel an der Reputation des Arztes aus Bochum gestreut. Nun übernahm die Lokalredaktion Bochum. Fleißig sponn man dort weiter am selbstreferenziellen Netz aus Berichten über immer neue Ermittlungen, die sich wiederum aus den von der WAZ verbreiteten Verdächtigungen speisten. Von einer Unschuldsvermutung und der daraus folgenden Pflicht zur ausgewogenen Darstellung des Sachverhalts hatte man offenbar immer noch nichts gehört.
Besonders hervor tat sich Lokalredakteur Jürgen Stahl: Er schrieb von nun an nur noch vom Bochumer „Attest-Arzt“. In gewohnter Manier versperrte dabei zumeist die Paywall den Blick auf die vermeintlichen Hintergründe – für die Leser musste sich so der Eindruck verfestigen, der Arzt wäre längst überführt:
Jürgen Stahls Worte entfalteten ihre Wirkung: Das Ansehen des vormals geachteten Mediziners war gründlich zerstört. Zu spüren bekamen das seine Patienten. Das Ordnungsamt Bochum akzeptierte fortan ihre Atteste nicht mehr und nötigte sie unter Androhung von Bußgeld zum Tragen einer Maske. Die Betroffenen hielt man fest wie auf frischer Tat ertappte Kriminelle, während die Polizei auf Weisung der Staatsanwaltschaft Bochum die Atteste konfiszierte und Anzeige wegen des Gebrauchs falscher Gesundheitszeugnisse stellte. Wer nach dem Grund fragte bekam zur Antwort: „Lesen Sie keine Zeitung? Der Mann hat falsche Atteste ausgestellt!“ Und diejenigen, die es dennoch in die Läden schafften, hörten dort mitunter „Ah, vom Attest-Arzt – die akzeptieren wir hier nicht.“ All das wegen der von der WAZ vorgetragenen Mutmaßungen eines Bochumer Lokalpolitikers und Landtagsabgeordneten, der sich anmaßt, die medizinische Notwendigkeit von Attesten besser beurteilen zu können als ausgebildete Ärzte und weltbekannte Wissenschaftler.
Meinung schlägt Expertise
Wer meint, die Geschichte um den Bochumer Arzt sei ein krasser Einzelfall, der irrt. In ganz Deutschland sind Ärzte von Strafverfahren bedroht, weil sie Maskenatteste ausgestellt haben. Vordergründig geht es dabei stets um Atteste ohne Untersuchung. Tatsächlich wird aber die Diagnose selbst infrage gestellt. Als Rechtfertigung dienen den Staatsanwaltschaften Nachrichtenartikel und Berichte, in denen Menschen ohne jegliche Expertise ihr vernichtendes Laienurteil zum Besten geben. Warum aber sollte die unqualifizierte Meinung von Politikern, Journalisten oder Sonstigen irgendeine Bedeutung für die ärztliche Tätigkeit haben?
In Deutschland sind Ärzte bei der Ausübung ihres Berufes an die ärztliche Berufsordnung gebunden. Diese verlangt die Einhaltung hoher ethischer und fachlicher Standards. Nach §2 heißt es:
(2) „Ärztinnen und Ärzte haben ihren Beruf gewissenhaft auszuüben und dem ihnen bei ihrer Berufsausübung entgegengebrachten Vertrauen zu entsprechen. Sie haben dabei ihr ärztliches Handeln am Wohl der Patientinnen und Patienten auszurichten. Insbesondere dürfen sie nicht das Interesse Dritter über das Wohl der Patientinnen und Patienten stellen.“
Zur gewissenhaften Ausübung des Berufs gehört es laut Berufsordnung, den anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu beachten. Der Aufruf von Sucharit Bhakdi und seinem Verein MWGFD e.V. tut das. Seine Einschätzung zu mangelnden wissenschaftlichen Belegen für die Schutzwirkung von (Alltags-)Masken wurde gerade erst von der europäischen Gesundheitsbehörde ECDC bestätigt. Sie schreibt:
„Die Evidenz für die Wirksamkeit von medizinischen Gesichtsmasken zur Prävention von COVID-19 in der Bevölkerung ist mit einem kleinen bis mäßigen Schutzeffekt vereinbar, aber es bestehen erhebliche Unsicherheiten hinsichtlich der Größe dieses Effekts. Die Evidenz für die Wirksamkeit von nicht-medizinischen Gesichtsmasken, Gesichtsschilden/Visieren und Atemschutzmasken in der Bevölkerung ist spärlich und von sehr geringer Gewissheit.“
Einiges deutet darauf hin, dass der „kleine bis mäßige Schutzeffekt“ statistisch nicht signifikant, also tatsächlich nicht vorhanden ist. Die ECDC empfiehlt das Tragen von Masken dennoch. Sie beruft sich dabei auf „das sehr geringe Risiko ernsthafter unerwünschter Wirkungen und die Anwendung des Vorsorgeprinzips“, wonach allein die theoretische Möglichkeit einer Schutzwirkung den Einsatz rechtfertigt.
Bhakdi und die Unterzeichner des Aufrufs teilen diese Einschätzung nicht. Anders als das ECDC kommen sie unter Beachtung des anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse zu der Einsicht, dass Angstzustände und Atembeschwerden, eingeschränkte Verträglichkeit, Unbehagen und Kopfschmerzen keine Lappalie, sondern ernstzunehmende Bedrohungen für die Gesundheit sind. Auch sie nehmen dabei das Vorsorgeprinzip in Anspruch, jedoch nach dem medizinischen Grundsatz „primum non nocere“ – zuerst keinen Schaden. Es ist eine legitime medizinische Position.
Vom Angriff auf den freien Arztberuf
Man mag der Sichtweise des ECDC folgen oder der von Sucharit Bhakdi und seinem Verein – beide Positionen sind in sich gut begründet. Natürlich wird aber ein Arzt, der nach dem Grundsatz „primum non nocere“ handelt, eher ein Leiden der Patienten diagnostizieren als einer, der die Schäden der Maskenpflicht zugunsten einer denkbaren Schutzwirkung für Dritte nivelliert. Und natürlich wird ein Patient, der die Schäden am eigenen Leib spürt einen Arzt aufsuchen, der sein Leid ernst nimmt. Dass diese Patienten mitunter weite Wege auf sich nehmen müssen, weil die meisten Ärzte inzwischen aus Angst vor Strafverfolgung Maskenatteste pauschal verweigern, ist mehr als bedenklich. Dass aber Politiker, Journalisten und Staatsanwälte zum Sturm blasen auf Ärzte, die eine unerwünschte medizinische Ansicht vertreten, ist ein Skandal. Es ist ein Angriff auf die Freiheit des Arztberufs.
Dass die Staatsanwaltschaft Bochum vom Bochumer Hausarzt ablässt, ist unter diesen Umständen nicht zu erwarten. Vielmehr scheint es, als wolle man dort einen Präzedenzfall schaffen – man greift die Diagnose an. Anhand beschlagnahmter Patientenakten will man nachweisen, dass nicht sein kann, was für die Unterstützer des Aufrufs offensichtlich ist: Dass die Maske mitunter Gefahren für die Gesundheit birgt, dies leicht zu diagnostizieren ist und das Nichttragen der Maske eine wirksame Therapie darstellt.
Am Ende wird der Bochumer Arzt wohl vor einem Richter stehen. Wie der Arzt aus Bochum ist der in seinem Urteil aber nur seinem Wissen und Gewissen verpflichtet. Seine Meinung wird er zuvor so wie jeder Bürger entlang der Erzeugnisse der Pressemedien gebildet haben. Die Geschichte des Bochumer Arztes wird ihm womöglich aus der WAZ bekannt sein. Es ist zu hoffen, dass er sein Urteil auf eine breitere Wissensbasis stellt. Denn sonst heißt es am Ende vielleicht: Im Namen der Presse – Schuldig!
Es gibt doch noch einige kritische Journalisten, die ihren Beruf gern und unbeeinflußt von Politik und Mainstream wahrnehmen.
Gibt es – wie bei Ärzten & Juristen – auch eine Vernetzung von Journalisten und vielleicht auch von KIRCHENvertretern??
DANKE UND Herzliche Grüße!